Können Kleinkinder bereits lesen lernen? Diese Frage stellte ich mir, nachdem ich bei meiner Tochter bereits in sehr frühem Alter Interesse für Buchstaben festgestellt hatte. Bei meiner Recherche zu dieser Fragestellung stolperte ich über das Video „Kleinkindlesen“, in dessen Videobeschreibung es heißt: „Wir arbeiten nach der Glenn-Doman-Methode, bei der Kleinkinder zwischen 18 Monaten und drei Jahren mit Hilfe ihres photometrischen Gedächtnisses ganzheitlich lesen lernen.“ Mein Interesse war geweckt.

Was ist das photometrische Gedächtnis?

In der Videobeschreibung wird es „photometrisches Gedächtnis“ genannt. Umgangssprachlich heißt es „fotografisches Gedächtnis“. Psychologen würden es wohl eher als „eidetisches Gedächtnis“ bezeichnen. Doch was ist das überhaupt?

Das eidetische Gedächtnis bezeichnet die Speicherung der exakten visuellen Information im Gedächtnis. Es ist, als ob wir ein Foto des Gesehenen aufnehmen und im Gedächtnis abspeichern würden.

Haben Kleinkinder ein fotografisches Gedächtnis?

Laut einiger Studien besitzen etwa fünf bis zehn Prozent der Kleinkinder ein annähernd fotografisches Gedächtnis. Auch meine persönlichen Beobachtungen zeigen, dass es Kleinkindern offensichtlich leichter fällt, visuelle Informationen annähernd exakt abzuspeichern. Besonders leicht ist dies bei Firmenlogos zu erkennen. Obwohl die Kinder noch nicht lesen können, erkennen sie Bildmarken und sogar Wortmarken wieder. Ihnen ist beispielsweise das Logo des Supermarktes, den sie regelmäßig mit ihrer Mutter besuchen, bekannt. Oder das Logo einer Süßigkeit.

Gerne erinnere ich mich daran, wie meine kleine Nichte beim Betrachten eines traditionellen Kartendecks plötzlich den Namen einer Baumarktkette nannte. Was hatte der Baumarkt mit den Spielkarten zu tun? Ganz einfach: Das Logo des Baumarkts war klein auf der Rückseite der Spielkarten abgebildet.

Diese und viele weitere Beobachtungen machten mir klar, dass Logos von Kleinkindern nicht bloß wiedererkannt werden, weil sie an typischen Orten auftauchen (das Supermarktlogo hängt am Supermarktgebäude), sondern weil die Kinder offensichtlich Form und Farbe zusammen mit einem gesprochenen Wort abgespeichert haben.

Da liegt es nahe, dass man sich diese Fähigkeit zunutze machen könnte.

Wie funktioniert das Kleinkindlesen?

Beim Kleinkindlesen werden dem Kind einzelne Wörter gezeigt und laut vorgelesen. Hierbei ist auf eine klare Aussprache zu achten. Das Kind speichert nun die visuelle Gestalt des gesamten Wortes zusammen mit dem gesprochenen Wort ab. In der Regel muss der Erwachsene das Wort hierfür nur etwa drei Mal zeigen und laut vorsagen.

Bei meiner Recherche bin ich auf unterschiedliche Empfehlungen gestoßen. An einigen Stellen heißt es, dass die Wörter täglich drei Mal wiederholt werden sollen. An anderen Stellen werden weniger Wiederholungen genannt. Einige empfehlen täglich ein neues Wort hinzuzunehmen. Andere wiederum meinen, dass es maximal fünf neue Wörter pro Woche sein sollten.

Die Übungen sollten spielerisch erfolgen und beiden Seiten Spaß machen.

Mit der Zeit sollen die Kinder selbständig erkennen, dass jedem geschriebenem Buchstaben ein bestimmter Laut zugeordnet ist. Auch Buchstabenverbindungen wie st, sp oder sch sollen mit der Zeit wiedererkannt werden, ohne dass der Erwachsene sie erklären muss.

Durch diese Methode soll das Kleinkind irgendwann in der Lage sein, neue Wörter selbständig zu lesen.

Wir haben das Kleinkindlesen getestet

Es klingt zu schön, um wahr zu sein. Lesen lernen, ohne täglich mühsam das Zusammenziehen der einzelnen Buchstaben üben zu müssen? Lesen lernen ohne Herumgestotter? Kann das wirklich funktionieren?

Das Einprägen der ersten Wörter

Meine Tochter war ein wissbegieriges Kleinkind. Sie war für alle neuen Spiele offen und interessierte sich eh für Buchstaben. So probierten wir das Kleinkindlesen einfach aus.

Ich wählte für den Anfang einige Wörter, von denen ich annahm, dass sie sie mögen würde. Darunter waren die Namen einiger Familienmitglieder, ihre favorisierten Lebensmittel, beliebte Spielsachen und Dinge, für die sie sich aktuell interessierte. Ich wählte eine Schriftart mit klaren Buchstaben, ohne Schnörkel oder Verzierungen. Anschließend druckte ich die Wörter groß aus. Jeweils drei Wörter auf einer Seite. Anschließend zerschnitt ich die Seite, sodass jedes Wort auf seinem eigenen Blatt stand.

Wir begannen mit zwei Wörtern. Zunächst einmal musste meine Tochter verstehen, was ich überhaupt noch ihr wollte. Doch schnell erkannte sie, dass jedes geschriebene Wort zu einem gesprochenem Wort gehört. Die Sache begann ihr Spaß zu machen. Wie im oben verlinkten Video arbeiteten auch wir mit der Methode des Wegwischens erkannter Wörter. Ich legte ihr ein geschriebenes Wort vor, sie sprach das Wort aus und wischte es vom Tisch. Anschließend legte ich ihr ein neues Wort hin. So dauerte jede Trainingseinheit lediglich zwei Minuten. Wir übten etwa einmal am Tag und nahmen dabei jeweils ein neues Wort hinzu.

Es funktionierte! Offensichtlich speicherte sie die Wörter als Bild ab. Ich nenne dies ein „Wortbild“. Dabei war ihr ganz offensichtlich noch nicht klar, dass jedem geschriebenem Buchstaben ein bestimmter Laut zugeordnet ist. Vielmehr nahm sie das Wortbild in seiner Gesamtheit auf. So speicherte sie schnell um die einhundert Wörter in ihrem Gehirn ab. Darunter alle Namen aller Kinder ihres gesamten Kindergartens. Denn ohne mein Zutun schien sie die Methode hier fortzuführen. An der Garderobe hing über jedem Haken ein Namensschild. Dies nutzte sie, um sich die Wortbilder aller Namen einzuprägen.

Vorteile und Nutzen

Meine Tochter war sichtlich stolz über ihr neuerworbenes Wissen. Gerne zeigte sie im Kindergarten auf jedes einzelne Namensschild und rief den entsprechenden Namen dazu laut aus. Zu Hause verteilte sie stolz die Post an alle Familienmitglieder. Denn sie konnte die Namen im Adressfeld wiedererkennen. Nur einmal war sie fest davon überzeugt, der Brief in ihrer Hand sei versehentlich in den falschen Briefkasten geraten. Die genannte Person würde schließlich nicht bei uns wohnen. Als ich mir den Brief genauer ansah, stellte ich fest, dass er an uns alle als „Familie“ adressiert war.

Auch im Supermarkt erkannte sie nun viele Wörter wieder. Zunächst war ich irritiert, als sie am Süßigkeitenregal „Müsli!“ rief. Doch dann sah ich, dass auf einer Verpackung „Müsli Riegel“ stand.

Es erstaunte mich, mit welcher Treffsicherheit sie Wörter auch an völlig fremden Orten wiedererkannte. Und das, obwohl die Schriftart, die Schriftgröße und die Schriftfarbe variierten. Wir erinnern uns: Die Methode beruht auf dem fotografischen Gedächtnis. Dieses bezeichnet die Speicherung der exakten visuellen Information im Gedächtnis. Offensichtlich gab es jedoch eine gewisse Flexibilität. Die visuelle Information musste nicht exakt vorliegen, um wiedererkannt zu werden.

Eine kuriose Geschichte

Da meine Tochter zu eben jener Zeit eine Vorliebe für Fahrzeuge hatte, nahm ich auch Wörter wie „Auto“ oder „Zug“ hinzu. Eines Tages besuchten wir die Bücherei. Hier fühlte sie sich besonders wohl, denn sie liebte Bücher! Ich las ihr gerne und oft vor. Während ich bei den Bilderbüchern schaute, näherte sie sich vorsichtig einer Gruppe deutlich älterer Kinder an. Diese hatten es sich in Sesseln und Sitzsäcken bequem gemacht und lasen. Meine Tochter nahm also ein ähnliches Buch aus dem Regal und setzte sich neben eines der Kinder. Sie schlug ihr Buch irgendwo in der Mitte auf. Eine Textwüste ohne jegliche Illustrationen kam zum Vorschein. Interessiert schaute meine Tochter die beiden Seiten an.

Plötzlich stieß sie ihren Sitznachbarn an und sagte: „Da! Zug!“ Dann zeigte sie auf ein Wort in ihrem Buch. Der Junge neben ihr schaute sich das Wort kurz an und bestätigte: „Ja, da steht ‚Zug‘.“ Anschließend las er sein Buch weiter. Meine Tochter betrachtete ebenfalls ihr Buch weiter.

Als stille Beobachterin dieser Szene war ich überrascht, dass die Wörter auch innerhalb eines langen Textes und in einer sehr geringen Schriftgröße wiedererkannt werden konnten.

Nachteile

Auch wenn das Lernen neuer Wörter schnell ging und meine Tochter innerhalb kurzer Zeit sehr viele Wörter lernte, erkannte sie nicht, dass zu jedem Buchstaben ein Laut gehört. Und dies ist für mich auch nicht weiter verwunderlich. Schließlich gibt es viele Buchstaben, die je nach Kontext ganz unterschiedlich klingen können! Als Beispiel sei hier lediglich das V genannt, welches in Vater wie ein F und in Vase wie ein W klingt. Daneben gibt es viele Buchstabenkombinationen wie beispielsweise ch, ck, pf, qu, sch, sp und st sowie Zwielaute wie au, ei und eu. Außerdem gibt es die Groß- und Kleinbuchstaben, die gleich klingen, obwohl sie manchmal ganz unterschiedlich aussehen. Wie zum Beispiel beim A und a oder beim G und g. Wie viele Wörter müsste das Kleinkind wohl lernen, um alle Buchstaben in einer Häufigkeit wiederzufinden, die es dem Kind erlaubt, jedem Buchstaben die richtigen, möglichen Laute zuzuordnen? Ich weiß es nicht.

Meine Tochter ist mit dieser Methode nicht über das Wiedererkennen bestimmter Wörter hinaus gekommen. Aus eben diesem Grund vermeide ich in diesem Zusammenhang auch das Wort „lesen“. Denn meine Tochter hat die Namen im Kindergarten nicht vorgelesen. Sie hat sie lediglich wiedererkannt. Lesen ist in meinen Augen eine sehr viel komplexere Fähigkeit.

Kritik am Kleinkindlesen

An dieser Stelle möchte ich noch auf zwei Stellen im oben genannten Video genauer eingehen. Zum einen wird hier das Wort „Buggy“ als Lernwort gezeigt. Dieses Wort hat seinen Ursprung im englischen Sprachraum. Das y wird in diesem Fall wie ein i ausgesprochen. Im Deutschen kann das y wie ein i, ein ü oder ein j klingen. Irritierend sollte es für das lesen lernende Kind aber beim Buchstaben u werden, der im Deutschen wie ein u, im Englischen aber wie ein a klingt!

Ich persönlich hätte dieses Wort als Lernwort vermieden und stattdessen lieber ein anderes Wort gewählt. An dieser Stelle möchte ich jedoch auch erwähnen, dass meine Tochter ebenfalls fremdsprachige Wörter lernte, da sie im Kindergarten auf viele ausländische Namen traf.

Als Zweites fiel mir im Video auf, dass die Kinder beim Lesen ihrer Sätze einfache Wörter wie „das“ und „ein“ oder „ist“ und „hat“ verwechselten. Dabei sind diese Wörter sowohl im Wortbild als auch beim richtigen Lesen klar voneinander zu unterscheiden. Wie kam es also dazu?

Deine Erfahrungen

Wie sieht es mit dir aus? Welche Erfahrungen hast du gemacht? Hat dein Kleinkind dich ebenfalls mit seinem fotografischen Gedächtnis überrascht? Hast du das Kleinkindlesen einmal ausprobiert? Hat es geklappt? Wo siehst du die Vor- und Nachteile? Schreib es mir gerne in die Kommentare!

Über das Erlernen des Lesens habe ich bereits mehrfach geschrieben. Für den Einstieg seien die drei folgenden Blogartikel empfohlen:

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