Ich stelle mir die Frage, ob es noch zeitgemäß ist, den Religionsunterricht innerhalb der Schule abzuhalten. Ist er ein wichtiger Bestandteil der Bildung? Oder doch eher ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten? Welche Rolle kann und sollte er in einem modernen Bildungssystem spielen?
Damals und heute – Meine Erfahrungen
Als ich die Grundschule besuchte, waren beinahe alle meiner Klassenkameraden katholisch. So wie ich. Wir besuchten gemeinsam den Religionsunterricht, hörten uns Bibelgeschichten an, sangen religiöse Lieder und lernten Stück für Stück die Grundsätze der katholischen Kirche kennen. Erst in der weiterführenden Schule lernten wir im Religionsunterricht andere Religionen kennen, wobei unsere katholische Lehrerin durchaus durchblicken ließ, dass sie den katholischen Glauben für die einzig richtige Wahl hielt.
Meine Tochter hingegen lernte bereits im Kindergarten andere Religionen kennen: Ein Kind aß während des Fastenmonats Ramadan nicht wie gewohnt mit den anderen Kindern zu Mittag, ein anderes Kind verzichtete in der Fastenzeit vor Ostern weitestgehend auf Süßigkeiten. Einige Kinder feierten Weihnachten. Andere hingegen andere, religiöse Feste. Und einige Kinder gehörten gar keiner Religion an.
Auch in der Grundschulklasse meiner Tochter waren viele unterschiedliche Religionen vertreten. Ebenso gab es Kinder, die gar keiner Religion angehörten. Einige Schüler, mit denen ich sprach, empfanden den Religionsunterricht als irrelevant für ihr tägliches Leben.
Nun geht meine Tochter auf eine weiterführende Schule. Kürzlich unterhielt ich mich mit einigen Mitschülerinnen und Mitschülern über das Fach Religion. Während die Grundschüler damals mit Aussagen wie „es ist langweilig“ oder „es interessiert mich nicht“ noch sehr ungerichtet über das Fach Religion sprachen, brachten die älteren Schülerinnen und Schüler ihren Unmut sehr viel deutlicher zum Ausdruck. Auch sie empfanden das Schulfach als wenig relevant für ihr Leben. Eine Schülerin meinte: „Das hat nichts mit meinem Leben zu tun.“ Ein Schüler sagte, es sei ein „Laberfach“. Wenn man die Sicht des Lehrers vertrete, bekomme man eine gute Note. Ein anderer sagte: „Ich glaube nicht an das, was wir im Religionsunterricht lernen.“
Spätestens an dieser Stelle fragte ich mich: Macht es noch Sinn, die Kinder für den schulischen Religionsunterricht zu trennen? Macht Religionsunterricht in der Schule überhaupt noch Sinn oder sollte er nicht lieber am Nachmittag oder an den Wochenenden außerschulisch stattfinden? Und falls wir beim traditionellen Unterricht bleiben sollten: Wie kann dieser so gestaltet werden, dass er für die Schülerinnen und Schüler von Bedeutung ist und ihnen hilft, in unserer komplexen Welt zurechtzukommen?
Damals und heute – Die Statistik
Vielleicht, so dachte ich, ist es nur mein subjektives Empfinden, dass es immer weniger katholische und evangelische Schülerinnen und Schüler gibt. Ich wusste, dass die Geburtenrate, wie auch die Anzahl der Taufen rückläufig sind. Ich wusste hingegen nicht, wie dies zueinander im Verhältnis steht. Daher schaute ich mir die Statistik „Geburten und Taufen, 1953 – 2021“ der „Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland“ an.
Die Anzahl der Geburten (Lebendgeborene) ist seit ihrem Gipfelpunkt (1964: 1.357.304 Geburten) bis zum Jahr 2019 (778.090 Geburten) um 579.214 Geburten (= minus 43 Prozent) zurückgegangen.
Die Anzahl der katholischen Taufen ist seit ihrem Gipfelpunkt (1964: 513.500 Taufen) bis zum Jahr 2019 (159.043 Taufen) um 354.457 Taufen (= minus 69 Prozent) zurückgegangen. Die Anzahl der evangelischen Taufen im Organisationsverbund der EKD hat sich parallel dazu um 337.727 Taufen = minus 70 Prozent verringert.
Betrachtet man die (eingangs problematisierten) Anteile der Taufen an den Geburten des Jahres, so hat sich der Anteil der katholischen Taufen an den Geburten von 34 Prozent (1953) auf 20 Prozent (2019) verringert, der Anteil der evangelischen Taufen von 33 Prozent (1953) auf 19 Prozent (2019).
Ausführliche Informationen hierzu sowie viele anschauliche Grafiken findest du auf der Webseite der „Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland“.
Ich lag also ganz richtig: In Deutschland werden immer weniger Kinder getauft. Gleichzeitig steigt die jährliche Anzahl der Kirchenaustritte in Deutschland. Hierzu habe ich mir die Statistik „Anzahl der Kirchenaustritte in Deutschland nach Konfessionen von 1992 bis 2023“ von Statista angesehen. Auch hier ist eine anschauliche Grafik zu finden.
Im Jahr 2023 traten 402.694 Personen aus der Katholischen Kirche und 380.000 Personen aus der Evangelischen Kirche aus. Damit sind die Zahlen gegenüber dem Vorjahr zwar wieder gesunken, aber immer noch auf einem sehr hohen Niveau: 2022 war das Jahr mit den meisten Austritten aus der Katholischen Kirche seit Bestehen der Kirchenaustrittsstatistik, 2023 liegt direkt dahinter. Insbesondere nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle im Jahr 2022 stiegen die Austritte an. Die Evangelische Kirche verließen in etwa so viele Mitglieder wie im Vorjahr.
Betrachten wir die Gesamtbevölkerung in Deutschland, so gehörten laut der Statistik „Religionszugehörigkeiten 2023“ der „Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland“ 2023 24 % der Deutschen der römisch-katholischen Kirche an, 22 % der evangelischen Kirche, aber ganze 46 % waren konfessionslos! Und das ist noch nicht alles: Betrachtet man die Glaubenspraxis in Deutschland, so gibt es nur noch 5 % praktizierende Gläubige, 49 % passive Kirchenmitglieder und 46 % Konfessionslose.
Nur 5 Prozent der deutschen Bevölkerung (und aller Religionen) sind als „praktizierende Gläubige“ zu betrachten. Damit setzt sich ein langfristiger Trend fort: Hinsichtlich des „Kirchlichen Lebens 1990 und 2015“ waren es 1990 noch 26 Prozent Gottesdienstbesucher, der 2015 bereits auf 13,5 gesunken war. 2019 war es nur noch ein Anteil von 7,9 Prozent, der sich nun abermals um weitere 2,9 Prozentpunkte verringert hat. Mit anderen Worten: Von 100 Bundesbürgern nehmen inzwischen 95 nicht mehr an Gottesdiensten teil, nur 5 von ihnen besuchen regelmäßig eine Kirche, Moschee oder Synagoge.
In den letzten Jahren ist die Anzahl der Gottesdienstbesucher kontinuierlich gesunken. Gut zu erkennen ist dies in der Statistik „Durchschnittliche Anzahl der katholischen Gottesdienstbesucher in Deutschland von 1950 bis 2023“ von Statista. Besuchten 1965 noch durchschnittlich rund 11,73 Millionen Menschen den katholischen Gottesdienst, so waren es 2023 durchschnittlich nur noch rund 1,27 Millionen Menschen.
Auch bei diesen beiden Statistiken empfehle ich einen Blick auf die aussagekräftigen Grafiken.
Statistiken zum Religionsunterricht
Wie steht es denn genau um den Religionsunterricht in unseren Schulen? Zu dieser Frage schaute ich mir die „Auswertung Religionsunterricht Schuljahr 2023/24“ herausgegeben vom „Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland“ an. Demnach nahmen 25,2 % der Schülerinnen und Schüler am katholischen Religionsunterricht und 28,5 % am evangelischen Religionsunterricht teil. 26,4 % besuchten den Ethikunterricht und 6,4 % das Ersatzfach Philosophie. Den übergreifenden Religionsunterricht besuchten lediglich 4,5 % der Schülerinnen und Schüler. Auch hier lohnt sich der Blick auf die Grafik mit der exakten Aufschlüsselung.
Je nach Bundesland, Schule und Klassenstufe umfasst der Religionsunterricht etwa ein bis zwei Stunden pro Woche. Im Gegensatz zu anderen Nebenfächern wie Biologie, Chemie, Physik, Erdkunde, Geschichte, Politik, Musik und Kunst wird Religion in jeder Klassenstufe unterrichtet. Ich finde, das muss man sich einmal vor Augen halten: Trotz dieses zeitintensiven Unterrichts verzeichnen wir immer weniger praktizierende Gläubige!
Getrennter oder gemeinsamer Religionsunterricht?
Wie die Statistiken oben gut belegen, verändert sich etwas in unserer Gesellschaft. Das ist nicht weiter schlimm. Veränderung ist Leben. Aber meiner Meinung nach sollte man auf solch relevante Veränderungen auch im Bildungssystem reagieren. Mitgehen, statt starr an Altem festzuhalten. Vielleicht müssen wir einsehen, dass das Schulfach Religion, so wie wir es kennen, nicht mehr zeitgemäß ist.
An der Grundschule meiner Tochter gab es so wenige katholische und evangelische Schülerinnen und Schüler, dass eine Trennung in katholischen Religionsunterricht, evangelischen Religionsunterricht und Ethik nicht leistbar gewesen wäre. Die Gruppenstärke wäre in den beiden erstgenannten Fächern einfach zu gering gewesen. Daher entschied man sich dafür, einen gemeinsamen Religionsunterricht anzubieten. Doch einige Schülerinnen und Schüler wurden von diesem Unterricht befreit, da es sich nach wie vor um Religionsunterricht handelte, welcher auch religiöse Lieder, Gebete und Bibelgeschichten einschloss. Insofern fand abermals eine Ausgrenzung statt.
Wie wäre es, wenn wir stattdessen ein gemeinsames Schulfach für alle einführen würden? Der Name sei einmal dahin gestellt. Vielleicht könnte dieses Fach „Ethik“ heißen, vielleicht „Ethik und Werte“, vielleicht aber auch ganz anders. Im Vordergrund dieses Faches sollte für mein Empfinden die Vielfalt stehen. Das inkludiert auch, dass ein Überblick über alle Weltreligionen gegeben wird, um das Verständnis für unterschiedliche Glaubensrichtungen zu fördern und Vorurteile abzubauen, was mir in der heutigen Welt essenziell erscheint. Hierbei sollte sich die Lehrperson (anders als in meinem Fall damals) neutral verhalten.
Weitere Inhalte dieses Faches könnten sein: die Reflexion über persönliche Werte, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Diskriminierung, Umweltethik, Umweltschutz und Nachhaltigkeit, die individuelle Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen, Krieg und Frieden, Selbstreflexion, Konfliktlösungsstrategien und vieles mehr. Diese Liste ist sicherlich unvollständig. Eine umfassende Diskussion sollte Grundlage der Erstellung eines neuen Lehrplans sein. Meiner Meinung nach sollte dabei ebenfalls in Betracht gezogen werden, den Punkt „Technologie und Ethik“ einzubeziehen, um Themenfelder wie die Künstliche Intelligenz, den Datenschutz oder die sozialen Medien innerhalb des Unterrichts hinreichend diskutieren zu können. Aus meiner Sicht könnte auf diese Weise ein zukunftsweisendes Schulfach entstehen.
Oberstes Ziel dieses Faches sollte die Förderung eines friedvollen Miteinanders sein. Und seien wir mal ehrlich: Kann getrennter Religionsunterricht wirklich zu einem friedvollen Miteinander beitragen? Ich denke nicht.
Darüber hinaus könnte man diskutieren, ob es tatsächlich sinnvoll ist, dieses Schulfach mit Noten zu bewerten. Doch diese Diskussion würde hier zu weit führen.
Schulischer oder außerschulischer Religionsunterricht?
In einigen Ländern ist es üblich, dass Religionsunterricht ausschließlich außerschulisch stattfindet. Dort gehen die Schülerinnen und Schüler am Nachmittag oder am Wochenende ins Gemeindezentrum oder in ein Gotteshaus (z.B. eine Kirche, eine Moschee, eine Synagoge oder einen Tempel), um etwas über ihre Religion zu erfahren. Auch in Deutschland gibt es außerschulischen Religionsunterricht. Allgemein bekannte Beispiele sind der Erstkommunionsunterricht, der Firmungsunterricht und der Konfirmandenunterricht.
Was also in Teilen bereits erfolgreich umgesetzt wird, könnte ausgeweitet werden, während der schulische Religionsunterricht durch Ethik und andere, für die heutige Zeit relevantere Themen, ersetzt werden könnte. Auf diese Weise wäre es allen gläubigen Kindern und Jugendlichen weiterhin möglich, mehr über ihren Glauben zu erfahren, um ihn weiterhin aktiv praktizieren zu können.
Deine Meinung
Was denkst du zu diesem Thema? Ist Religionsunterricht in der Schule deiner Meinung nach noch zeitgemäß? Ich freue mich auf einen offenen und respektvollen Austausch zu diesem heiklen Thema. Es würde mich freuen, wenn wir verschiedene Perspektiven fair und konstruktiv beleuchten könnten. Hinterlasse mir also gerne einen Kommentar unter diesem Artikel!
An dieser Stelle möchte ich auf eine wunderbare Sammlung unterschiedlicher Meinungen aufmerksam machen: Die Süddeutsche Zeitung hat unter dem Titel „Religionsunterricht zwischen Schwund und Tradition“ viele lesenswerte Leserbriefe veröffentlicht. Ich wünsche dir viel Spaß beim Lesen!